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DER NARR UND DAS TAUSENDJAEHRIGE REICH (1933 bis 1945)
Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit.
Der New Yorker Börsen-Crash von 1929 wirkt sich mit Verzögerung auch in
Europa verheerend aus. Ganze Wirtschaftszweige brechen zusammen, allein in
Deutschland werden sechs Millionen Menschen arbeitslos. Aber Grocks
Einkommen bleibt selbst in dieser Zeit grosser Not beträchtlich, obwohl sich in Deutschland wie in ganz Europa immer weniger Menschen den Besuch eines Music-Halls leisten können. Allerdings
verliert das Geld, das er verdient, ständig an Wert. Im Deutschen Reich beginnt es zu gären, im Januar
1933 gelangen die Nazis an die Macht.
Besuch des "Führers".
Dem kleinen, hinkenden Journalisten Josef Goebbels hat Grock vor Jahren ein
Interview gewährt. Nun ist Goebbels Reichs-Propagandaminister und erzählt
Grock, Reichskanzler Adolf Hitler bewundere den Clown sehr und wolle ihn
bald kennenlernen.
Am 24. Januar 1934 ist es so weit: Hitler besucht Grocks Vorstellung im
Deutschen Theater in München. "Herr Grock, es ist das dreizehnte Mal, dass
ich sie sehe. Sie sind der einzige Artist, der mich nicht ermüdet", habe ihn
Hitler begrüsst. Grock zeigt sich von Hitler sehr beeindruckt. Seine
Ausstrahlung, diese klaren blauen Augen! Und wie der Mann aus ärmsten
Verhältnissen es geschafft hat, einer der mächtigsten Männer der Welt zu
werden!
Lolés überstürzter Abschied.
Wie viele Menschen in ganz Europa sind Grock und seine Frau Inès der
Meinung, Hitler habe die Wirtschaft und das Ansehen in Deutschland wieder
aufgerichtet. Sein Partner und Schwager Geo Lolé jedoch beobachtet die
Entwicklung mit Sorge. Die Nazis halten den Versailler Friedensvertrag von
1918 für Deutschlands grösste Schande und schreien immer unverhohlener nach
Rache. Immer öfter wird auch Lolé Zielscheibe verbaler Attacken. An
Weihnachten 1935 reist Lolé zu seiner Frau Jeanne nach Paris; kaum dort
angekommen, schreibt er Grock, er solle sich im neuen Jahr einen anderen
Partner suchen. Es kommt zum heftigen Streit, und die beiden gehen endgültig
auseinander.
Familienstreit um Bilder von Hitler und Goebbels.
Der Ärger mit der Familie geht 1936 weiter, weil Fotos von Hitler und
Goebbels mit persönlichen Widmungen den Salon der Villa in Oneglia zieren.
Seine Verwandschaft in der Schweiz ist schockiert: Wie kann ein Adrien
Wettach, zudem Mitglied der Freimaurerloge von Nizza, Bilder von Nazigrässen
aufhängen? Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen, besonders mit Georges
Bessire. Der Mann von Grocks Schwester Cécile ist sozialdemokratischer
Gemeindepolitiker in Biel und überzeugt: Hitler ist ein Rassist und
Verbrecher, der Andersdenkende vernichten will, Deutschland aufrüstet und
die Welt in einen neuen Krieg stürzen wird. Grock dagegen findet: "Hitler ist
zwar ein Schreihals, aber einen Krieg wird er nie entfachen!"
Auch Grock braucht einen "Arierausweis".
1938 dreht Grock mit Ernst Hohner einen Farbfilm, offenbar zu Werbezwecken
für dessen Akkordeonwerke. Die Veröffentlichung des Films machen die Nazis
in ihrem Rassenwahn davon abhängig, dass der Clown den am 2. Januar 1939
verlangten Arierausweis vorlegen kann. "Dieser Hitler war mir inzwischen
unheimlich geworden", wird er dazu in seinen Memoiren anmerken. In der Tat:
Hitler hat 1938 Oesterreich annektiert und die Tschechoslowakei besetzt, in
Deutschland wird die Verfolgung von Juden, Zigeunern und Andersdenkenden
immer brutaler. Da entschliesst sich Grock, seine Karriere zu beenden. Er
zieht sich am 6. Mai 1939 in seine Villa zurück, wo die Hitler- und
Goebbels-Fotos mittlerweile von den Wänden verschwunden sind.
Der Clown in Teufels Küche.
Am 1. September 1939 löst Hitler den zweiten Weltkrieg aus, bereits am 27.
September ist Polen erobert. Grock geniesst derweil seinen Ruhestand, fühlt
sich aber schon bald wie in einem goldenen Käfig - ihm fehlt das Publikum
und der Applaus. Es gelingt ihm, seinen Partner Alfred Schatz, mit dem er
seit 1936 arbeitete, von der Front weg auf die Bühne zurückzuholen, um mit
ihm für Verwundete der Achsenmächte auftreten. 1940 besetzen deutsche
Truppen Belgien, Holland, Frankreich und Norwegen, ihr Siegeszug scheint
unaufhaltsam. Am 17. April 1940 wird Grock von Goebbels Adjunkt
aufgefordert, auch in deutschen Spitälern vor Kriegsversehrten aufzutreten.
"Kraft durch Freude" mit Inge Ley.
Im Sommer 1940 lernt Grock in San Remo Inge Ley kennen. Die schöne
Sopranistin ist mit Reichminister Robert Ley verheiratet und in der
Verwundetenbetreuung der nationalsozialistischen "Kraft durch
Freude-Bewegung" engagiert. Auch "die liebenswerte und bezaubernde Inge"
bittet ihn, in Deutschland für verwundete Soldaten zu spielen. Bei seinen
Auftritten im Rahmen der "KdF" sind aber oft eher Rüstungsarbeiter und
Parteibonzen im Zuschauerraum. 1941 und 1942 trifft sich Grock sich mit
Inge Ley, zuletzt im Herbst 1942 bei einem Gastspiel in Berlin, wo er auch
ihrem "ewig unter Alkohol stehenden, unsympathischen Mann" begegnet. Am 29.
Dezember schickt ihm die Ley ein Telegramm zum neuen Jahr, am Morgen danach
erfährt Grock, dass sie sich erschossen hat.
Flucht in die sichere Schweiz.
1943 wendet sich das Kriegsgeschehen. Nach den Blitzerfolgen des Jahres 1941
ist das deutsche Heer in Russland auf dem Rückzug. Anfangs 1944 landen erste
alliierte Truppen in Sizilien und gewinnen stetig Boden Richtung Norden.
Auch Oneglia wird bombardiert, wobei Grocks Villa erstaunlicherweise fast
unversehrt bleibt. Die italienischen Partisanen rücken ebenfalls immer
näher. Grock befürchtet, sie könnten ihm seine Kontakte zu den bisherigen
Machthabern übelnehmen und flieht am 31. August 1944, zuerst nach Zürich zu
seiner Nichte Madeleine, dann nach Luzern zu seiner Schwester Fanny, die ihn
vorläufig aufnimmt. Und schon im Herbst 1944 steht Grock in der Schweiz
wieder auf der Bühne!
© Raymond Naef, Switzerland
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